Es gibt keinen Fachkräftemangel – es gibt nur schlechte Arbeitsbedingungen
25. April 2023
Wenn das Recruiting nicht läuft, ist nicht zwangsläufig der Fachkräftemangel schuld. Vielleicht ist das Problem auch hausgemacht, weil Unternehmen nicht die richtigen Arbeitsbedingungen bieten, um begehrte Fachkräfte anzuziehen und zu halten?
Ist die Bezahlung schlecht, Mehrarbeit an der Tagesordnung, das Betriebsklima frostig und der nächste Schritt auf der Karriereleiter in weiter Ferne, sollten sich Personalverantwortliche nicht wundern, wenn qualifiziertes Personal sein Glück woanders sucht. Schließlich gilt das Prinzip von Angebot und Nachfrage: So konnten Unternehmen in Zeiten von hoher Arbeitslosigkeit geringere Gehälter durchsetzen und auch weitere Rahmenbedingungen wie Bonuszahlungen oder Zusatzleistungen weitgehend zu ihren Gunsten diktieren.
Seit Jahren läuft es jedoch erfreulich rund mit der Konjunktur in Deutschland, und auch Corona hat zunächst nur zu einem geringen Einbruch geführt. Dennoch sind die Reallöhne in den vergangenen Jahren gesunken – trotz Rekordumsätzen und voller Auftragsbücher.
Arbeitszeiten so unattraktiv wie das Gehalt
Die meisten Branchen klagen mittlerweile darüber, dass sie zu viel Arbeit, aber zu wenig Leute haben. In Pflege, Baugewerbe oder Logistik ist dieser Mangel besonders hoch. Das sind allerdings genau jene Branchen, bei denen Wochenend- oder Nachtarbeit beziehungsweise lange Arbeitstage an der Tagesordnung sind. Außerdem wird in diesen Jobs oft sehr viel Arbeit auf sehr wenig Personal verteilt und es herrscht häufig großer Zeitdruck. Auch die Löhne bieten wenig Anreiz sich diesen Arbeitsbedingungen auszusetzen. Ähnlich ergeht es der Gastronomie: Personal, das sich während der Lockdowns andere Jobs gesucht hat, kommt nicht mehr zurück, weil die Arbeitszeiten so unattraktiv sind wie die Löhne.
Umfrage unter Personal- und Betriebsräten
Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung hat im Jahr 2021 knapp 4.000 Betriebs- und Personalräte zu dem Thema befragt. Anders als die Arbeitgeberseite, die den Fachkräftemangel verantwortlich macht, sehen viele Vertreterinnen und Vertreter der Angestellten auch schlechte Bezahlung und ungünstige Arbeitszeiten als Gründe, dass Stellen unbesetzt bleiben.
Diesen Befund teilen wir von Becker + Partner – zumindest teilweise. Laut Statista sind im Februar 2023 zwar „nur“ rund 800.000 Stellen unbesetzt. Doch die Probleme werden größer, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den kommenden Jahren in Rente gehen. Unserer Ansicht nach müssen daher sowohl für den Fachkräftemangel als auch für die Arbeitsbedingungen Antworten her.
Mit ordentlichen Löhnen und attraktiven Arbeitszeiten lassen sich auch in Zeiten des Arbeitermangels noch motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Schaut man sich die aktuellen Recruiting-Trends an, stehen außerdem ein gutes Betriebsklima, flache Hierarchien, Aufstiegschancen und eine möglichst sinnstiftende Tätigkeit ganz oben auf dem Wunschzettel. Die Wünsche der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind also keine unbekannte Größe und hier sollten die Unternehmen ansetzen. Denn wer will es den Fachkräften verdenken, wenn sie sich nicht mehr in zahllosen Überstunden aufreiben möchten und darüber Familie und Gesundheit vernachlässigen?
Löhne und Arbeitszeiten müssen passen
Gerade in kleinen und mittelständischen Unternehmen sehen wir als Personalberater oft noch Vorbehalte gegen das Beschreiten neuer Wege. Hinzu kommt, dass jahrelang beim Personal gespart wurde. Diese Personalpolitik ist für den aktuellen Zustand mitverantwortlich und kann kaum von heute auf morgen geändert werden.
Und natürlich darf man nicht vergessen, dass viele Firmen in Deutschland unter den gestiegenen Preisen für Energie und Material, sowie Lieferengpässen leiden. Deswegen ist es nachvollziehbar, wenn insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen in Zeiten unsicherer Wirtschaftsaussichten oft keine überdurchschnittlichen Löhne zahlen können oder wollen. Doch ohne angemessene Gehälter dürfen sie sich nicht beklagen, wenn sie keine Fachkräfte bekommen. Zudem sie können anderweitig punkten – mit langfristigen Arbeitsverträgen, flachen Hierarchien oder einem breiten Weiterbildungsangebot. Die größten Pluspunkte sind jedoch aus Sicht einer Personalberatung flexible Arbeitszeiten, mehr Teilzeitarbeit und großzügige Homeoffice-Regelungen. Immer mehr Fachkräfte suchen gezielt nach Stellen mit Homeoffice-Angeboten. Die Suchmaschinen haben bereits darauf reagiert und die Suchoptionen dahingehend erweitert.
Die Arbeit sollte so organisiert sein, dass Überstunden die Ausnahme sind, nicht die Regel. Auch Extraleistungen wie Sonderurlaub, Fortbildungen oder Prämien sorgen für mehr Attraktivität als künftiger Arbeitgeber.
Umdenken für erfolgreiches Recruiting
Der Arbeitgeber als Bewerber, der sich möglichst gut präsentieren und später natürlich auch liefern muss: Das ist für viele eine neue Rolle. Ohne ein Umdenken wird es kaum funktionieren. Vor allem die jungen Fachkräfte stellen zudem althergebrachte Grundsätze teilweise leise, teilweise deutlich hörbar in Frage. Vielleicht sollten Unternehmerinnen und Unternehmer ihnen mehr zuhören.
Wir erleben in unserer täglichen Arbeit, dass die jungen Talente etwas bewirken möchten und dafür durchaus bereit sind Einsatz zu zeigen. Dieses Engagement sollten Unternehmen fördern und neue Formen der Zusammenarbeit schaffen. Denn Arbeit verändert sich. Heute arbeitet niemand mehr so wie noch vor 150 Jahren – zum Glück. Deswegen sollten sich Unternehmen auf diese veränderten Anforderungen einstellen. Sonst laufen sie Gefahr ins Hintertreffen zu geraten.